Die Zeiten ändern sich

Heiser strich der Wind durch die dürren Büsche der Hochebene. Heiser klangen die Schreie der Möwen im Wind.
Grün und fruchtbar war das Binnenland Aiwendhors und schroff die Küste, mit verzahnten, abweisenden Klippen, die nur an wenigen Stellen sicheren Ankerplatz boten. Die wenigen Häfen dieses kostbaren Landes waren darum auf befestigte, gut bewachte Siedlungen. Wenig Möglichkeiten bot es, ein großes Schiff zu landen, noch weniger, wenn dies unbemerkt zu geschehen hatte. Eine Flotte aber hätte niemals gegen den Widerstand seiner Bewohner anzulanden vermögen - nicht ohne schmerzhafte Verluste.
Verluste, die der alte Graf nicht zu tragen gewillt war. Noch nicht.
Er stand an der Reling der Hasshalarekta und beobachtete, wie die Felsenküste des Nordlandes weitab im Dunst vorüberzog. Außer ein paar Fischerkähnen (und dem einen doer anderen Schmugglerschiff) besaßen die nördlichen Fürsten kaum noch etwas, mit dem sie die Ekkaja zu überqueren vermocht hätten. Keine Gefahr für sein Flaggschiff und den fünften Teil seiner Flotte, die gemächlich die Nordspitze der Insel umsegelten, auf der Fahrt nach Ered Nimrais und weiter nach Tol Taurin bis hin in abgelegene Gewässer, die einmal das ferne Rayç sein eigen genannt hatte. Lange schon war jenes Reich vergangen, ebenso wie das noch ältere Avalon, das vor noch mehr Jahresläfen die selben Insel Heimat geheißen hatte.
Doch Grenzland war es noch immer, wenn sich auch Namen und Wappen der menschlichen Anwohner oftmals geändert hatten. Und somit sehr wohl eine neuerliche Inspektionsfahrt der Flotte wert, wie der Graf von Lir befand. Noch besser, daß diese auch am aufsässigen Aiwendhor vorbeiführte - und vor allem weit, weit entfernt von der Hauptstadt des Reiches ihr Ende finden würde.


"Und wir sitzen hier wie die Maus in einer Falle." Lorion dha'Sarios, der Baron der Provinz Talath Andunedh im nördlichen Aiwendhor, wandte sich von dem spitzbogigen Fenster ab. Unten im inneren Burghof der Festungsanlage Soromenos, hielt ein Banner von Aedhans Bütteln den Morgenappell. Die dicken Mauern und tiefen Gräben der neuen Festung verstärkten Lorions Unwohlsein nur noch.
Aedhan dan 'Eledh, sein Gastgeber und Hausherr auf Soromenos, zuckte nur die Schultern ob dieser Feststellung seines Freundes und Bundesgenossen. Seine Rot-Silbern gekleideten Büttel waren ihm noch allemal lieber als die Blau-Golden gekleideten Truppen der alten Königin. "Wir haben noch Glück, daß wir Aiwendhors Nordgrenze halten. Die Südküste wird den Kriegern aus der Hauptstadt zuerst begegnen."
"Die Königlichen sind gerade nicht meine größte Sorge." Einige Boten der letzten Zeit hatten den Thlossibin in nicht geringe Sorge versetzt. "Aber was hälst du von unserem anderen Nachbarn?"
"Ich hatte in Soromenos bislang wirklich noch keine Probleme damit. Erwartest du etwa ein Invasionsheer? Von wem? Caledonien ist Beleriands ältester - und ruhigster - Nachbar. Meinst du, daß sie ausgerechnet jetzt einen Überfall planen sollten?" Der Hausherr auf Soromenos räkelte sich bequem in einem hohen, ledergepolsterten Lehnstuhl und beobachtete seinen wie von Hornissen getriebenen, Zimmer umhergeisternden Gast.
"Caledonien ist der älteste Nachbar der alten Königin. Was es von diesem seltsamen Gebilde hält, das sich jetzt an seiner Grenze gebildet hat, können wir nur abwarten. Meinst du wirklich, daß Schischimora und ihre Berater wirklich so erbost gegen einen alten Freund vorgehen würden, der ihnen hilft, einige aufständische Fürsten zu bändigen?" Lorion hob resigniert die Schultern. "Wenn wir nciht alle so begeistert Amadáns süßen Worten gefolgt wären, hätten wir jetzt nicht das Problem einer Provinz, die an allen Seiten nur von Gegnern umgeben ist."
"Du hast Chosons Angebot also auch erhalten." Ein leises Lachen schwang in Aedhans Stimme mit. "Aber eines solltest du bedenken, alter Freund: lieber verkaufe ich mein Land so teuer wie möglich, ehe ich es mir von fremden Truppen gewaltsam nehmen lasse - oder ehe ich zusehe, wie es zerrieben wird zwischen Königlichen und Fremden wie Korn im Mühlstein. Wenn wir erst zwischen Hammer und Amboß geraten, wird weder von deinem noch von meinem Lehen etwas übrig bleiben."